Berufspraxisfelder der Kognitionswissenschaft

[Dieser Bericht ist - zusammen mit einem Kommentar durch den gegenwärtigen (5/99) Sprecher der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft - in leicht veränderter Fassung unter dem Titel "Berufspraxisfelder der Kognitionswissenschaft. Bericht der Berufspraxiskommission (BPK) der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft (GK) für den Zeitraum 10/94-2/96." in Kognitionswissenschaft 6, 135-142, veröffentlicht worden.]


Bericht der Berufspraxiskommission der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft

Als Mitglieder der Kommission waren tätig:
Kai-Uwe Carstensen, Josef Meyer-Fujara, Franco di Primio und Franz Schmalhofer.

Wie die Kognitionswissenschaft selbst, so befinden sich auch ihre Berufspraxisfelder weiterhin in einer Entstehungsphase. Dementsprechend können die Berufspraxisfelder nur annähernd aufgezeigt oder abgegrenzt werden. In der Berufspraxis von Forschung, Lehre, Wirtschaft und Industrie hat sich in den letzten Jahren jedoch deutlich gezeigt, daß eine zunehmende Zahl von neu entstehenden Tätigkeiten den Einsatz von Kognitionswissenschaftlern oder zumindest von Mitarbeitern mit einer kognitionswissenschaftlichen Zusatzqualifikation erfordern. Viele praktische Probleme können heute nicht mehr ausschließlich oder auch nur im überwiegenden Maß mit dem Wissen, den Methoden und den Praktiken aus einem einzelnen Wissenschaftsgebiet wie etwa der Informatik, Linguistik oder Psychologie bewältigt werden. Wenn aber das Wissen aus einem dieser Wissenschaftsgebiete allein nicht mehr ausreicht und ein gut koordiniertes Zusammenwirken relevanter Erkenntnisse aus mehreren Wissenschaftsgebieten benötigt wird, dann wird die Kognitionswissenschaft auch in der Berufspraxis weiterhin an Bedeutung gewinnen.


1.Qualifikationsprofil


Der Kognitionswissenschaftler ist in erster Linie in all den Praxisfeldern tätig, in denen anspruchsvolle und neuartige Aufgabenstellungen gelöst werden müssen, die nicht im Rahmen einer einzigen Elterndisziplin der Kognitionswissenschaft bewältigt werden können. Solche Aufgabenstellungen erfordern oft eine feinstimmige Koordination von Erkenntnissen und Methoden aus zwei oder mehreren Elterndisziplinen und der modernen Kognitions- und Neurowissenschaft. Als Elterndisziplinen gelten in unterschiedlichen Anteilen die Informatik, die Künstliche Intelligenz, die Linguistik, die Psychologie, die Pädagogik und die (Neuro)Biologie.
Der Kognitionswissenschaftler ist daher sowohl dazu qualifiziert, Methoden und Ergebnisse aus den einzelnen Disziplinen in einer wohl aufeinander abgestimmten Weise einzusetzen, als auch die Arbeit von Praktikern aus den beteiligten Gebieten zu koordinieren oder im Team als Moderator dafür zu sorgen, daß die oft recht unterschiedlichen Herangehensweisen der in den verschiedenen Bereichen ausgebildeten Mitarbeiter konstruktiv genutzt werden.
Aufgrund der Stellenanzeigen der letzten Jahre läßt sich sagen, daß zur Mitarbeit in interdisziplinären Teams bisher sehr viel häufiger Informatiker, Linguisten und Psychologen mit einer kognitionswissenschaftlichen Zusatzausbildung gesucht werden als Personen mit einem Abschluß in der Kognitionswissenschaft. Personen mit kognitionswissenschaftlichen Qualifikationen, deren Kompetenzen in der Informatik, Linguistik oder Psychologie verankert sind, dürften daher in der nahen Zukunft bessere Berufsaussichten haben, als Personen, deren Kompetenz hauptsächlich auf dem Gebiet der Kognitionswissenschaft liegt. Längerfristig ist aber zu erwarten, daß auch die Kognitionswissenschaft als Hauptqualifikation in der Berufspraxis an Bedeutung gewinnen wird. Im allgemeinen kann man erwarten, daß sich die Kognitionswissenschaft zuerst in der Forschungs- und Lehrpraxis und dann auch in Wirtschaft, Verwaltung und Industrie etablieren wird.

2.Berufsfelder


Im Rahmen der Tätigkeit der Berufspraxiskommission wurden innerhalb der GMD - Forschungszentrum Informationstechnik GmbH und über den Email-Verteiler der Graduiertenkollegs Umfragen durchgeführt. Neben allgemeinen Fragen wie "Wie sollte eine (minimale) berufsrelevante kognitionswissenschaftliche Ausbildung aussehen?" oder "Welcher Unterschied besteht zwischen interdisziplinärer und kognitionswissenschaftlicher Ausbildung?" wurde die Hauptaufforderung ausgesprochen, sich zu den Berufsfeldern in Form konkreter Angaben zu eigenen Erfahrungen bzw. durch Anregungen oder auch einfach nur Meinungen zu äußern. Den Kollegiaten wurden auch einzelne Beispiele als Muster gegeben. Die Ergebnisse dieser Umfragen werden im folgenden als annotierte Liste von (zum Teil hypothetischen) Berufsfeldern präsentiert. Diese Liste erhebt selbstverständlich weder einen Anspruch auf absolute Korrektheit noch auf Vollständigkeit, sondern soll nur dazu dienen, die Anregungen und Vorschläge unserer Informanten möglichst übersichtlich und strukturiert wiederzugeben.*

Sie enthält außerdem überwiegend nur solche Berufsfelder, die durch eine spezifisch kognitionswissenschaftliche Ausrichtung gekennzeichnet sind (im Gegensatz zu solchen Tätigkeitsbereichen, die „nur“ durch Interdisziplinarität, d.h. durch Beteiligung mehrerer Elterndisziplinen, charakterisiert sind).

Forschung


Lehre


Medizinisch-Klinischer Bereich


Sozialer Bereich


Wirtschaft/Industrie


Sonstige Tätigkeitsfelder

In der Befragung wurden weitere Tätigkeitsbereiche für Kognitionswissenschaftler genannt, die aber aus unterschiedlichen Gründen im folgenden nur aufgelistet werden.

3.Probleme und Anmerkungen


Im Rahmen der Umfragen sind außerdem eine Reihe von Problemen angesprochen worden, die eng mit der Weiterentwicklung der Kognitionswissenschaft und mit der Zukunft ihrer Absolventen verbunden sind und die deswegen nicht unberücksichtigt bleiben sollen. Es zeigt sich hierbei, daß die Berufsperspektiven von Kognitionswissenschaftlern mit drei weiteren Aspekten verknüpft sind: Die Definition der (Inter-) Disziplin selbst ("Was ist Kognitionswissenschaft?") und die entsprechende Spezifikation ihrer Ausbildungsart und -inhalte, ihre Abgrenzung von den einzelnen Elterndisziplinen ("Was genau unterscheidet Kognitionswissenschaft von Psychologie, Linguistik, KI etc.?") sowie ihre Akzeptanz bzw. ihr "zur-Kenntnis-Nehmen" in der Wirtschaft/ Industrie. Konkret wurden die folgenden Punkte genannt:
Für die Zukunft der Kognitionswissenschaft in Deutschland und insbesondere für die ihrer (ersten) Absolventen erscheint es dringend notwendig, diese Anmerkungen zur Kenntnis zu nehmen und die angesprochenen Fragen im Hinblick auf eine sowohl in der Forschung als auch in der Praxis akzeptierte und umsetzbare Konzeption von "Kognitionswissenschaft" zu beantworten.


*Wir bedanken uns an dieser Stelle bei Thomas Christaller, Christian Freksa, Joachim Hertzberg, Rainer H. Kluwe, Wolfgang Maaß, Bernd S. Müller, Reinhard Oppermann, Stefan Pohlmann, Thomas Richter, Petra Weiss und Annette von Wolff. Besonderer Dank geht an Dagmar Knorr, Josef Nerb und Heike Tappe sowie an Markus Spies für wertvolle Anmerkungen zur Endfassung dieses Berichts.